Samstag, 13. Februar 2016

BWK: Fliegerhalle



Musik zwischen Rohwollballen



  Konzerte in der BWK-Fliegerhalle






Fliegerhalle auf dem BWK-Gelände in den 
1990-er Jahren (Quelle: BWK-Geschäftsbericht 1995, S. 2)
                                    Fliegerhalle im Jahr 2012 (Quelle: wikipedia)



                                                       Fliegerhalle im April 2015



Wenn Gebäude ihre Lebensgeschichte schildern könnten, würden ihre Berichte vermutlich sehr unterschiedlich ereignisreich ausfallen. Das hängt üblicherweise von der jeweiligen Nutzung ab. So findet man neben normalen Wohn- und Bürogebäuden, wie sie jeder kennt und selbst benötigt, auch Immobilien, deren Türen für die Öffentlichkkeit verschlossen sind und die sich sogar auf Grundstücken befinden, die man erst durch das Passieren einer kontrollierten Pforte betreten kann. Das sorgt fast zwangsläufig für Fragen, durch die man ihrem Geheimnis auf die Spur kommen will. Besonders neugierig auf diese Gebäude wird man vor allem dann, wenn sie noch mit Namen bezeichnet werden, die für Außenstehende keinen Informationswert besitzen und daher unverständlich sind.

So eine Immobilie fand und findet man auch auf dem Werksgelände der ehemaligen Bremer Woll-Kämmerei in Bremen-Blumenthal. Dieses Gebäude wird entweder offiziell und nichtssagend als Haus 173 oder mit dem zunächst unverständlichen Begriff "Fliegerhalle" bezeichnet, obwohl hier von Flugzeugen oder auch nur einer Zulieferung von Bauteilen an die Luftfahrtindustrie nichts bekannt ist. 

 
Die Geschichte der multifunktionalen Halle 173


Die Bremer Denkmalpfleger sahen in dieser Halle, die erkennbar jünger ist als etwa die Backsteingebäude der Kammzuglager, einen "Grenzfall" (Brand), als sie sich nach dem Kauf eines großen Areals Ende 2003, das die BWK für die Produktion nicht mehr benötigte, an die damalige Bremer Investitions-Gesellschaft BIG, mit einem Schutz als Baudenkmal beschäftigt haben. Gegen den Abriss, der vorwiegend die funktionalen Produktions- und Lagerhallen der BWK aus den 1960-er und 1970-er Jahren betraf, sprach die bei der Halle 173 verwendete Kombination einer Stahlkonstrukion mit Außenwänden aus Backstein, die im Baujahr 1929.


Dieses Gebäude wurde wie ein Flugzeughangar konstruiert. Daher stand bei der Bauplanung die Dachkonstrukion im Vordergrund, um den für ein Flugzeug erforderlichen Platzbedarf freitragend zu überspannen. Dazu griff man in Blumenthal auf eine dreischiffige Stahlkonstruktion zurück, die das Hamburger Bauunternehmer F. H. Schmidt im Auftrag der BWK gebaut hat. Dieses Haus 173 war ursprünglich eine von vier Lagerhallen für Rohwolle, die unmittelbar an der 640 m langen BWK-eigenen Pieranlage standen, wo bis 1970 Rohwolle angelandet wurde und teilweise mit Muskelkraft und Sackkarren in die Lagerhäuser transportiert wurde. 

Die moderne und große Fliegerhalle wurde auch zumindest sporadisch multifunktional genutzt, da sie sich für Versammlungen anbot, an der möglichst viele Mitarbeiter, wenn nicht sogar die gesamte Belegschaft, teilnehmen sollten. So fanden hier in den Jahren, als sich die nach und nach weniger werdende Zahl an Beschäftigten noch nicht gleichzeitig in der Kantine unterbringen ließ, die Betriebsversammlungen statt und während der NS-Zeit mussten hier die wichtigsten aus er Reichhauptstadt Berlin übertragenen Reden der NS-Führer verfolgt werden.

Als besonderer Höhpunkt der Unternehmensgeschichte feierte die BWK in dieser modernen Halle 1934 ihr 50-jährigs Bestehen, das gleichzeitig nach der ein Jahr zuvor erfolgten Machtübernahme durch die NSDAP als Proagandaveranstaltung für dieses "neue" Deutschland missbraucht wurde.

So berichtetet die Presse damals von einer "festlich geschmückten, mit unzähligen grünen Girlanden an der Decke und den Wänden" hergerichteten "riesigen Halle", "die als Festsaal für die große, an die 4000 Köpfe zählende Gefolgschaft zur Feier des 50jährigen Bestehens des Unternehmens" diente. Dabei hatte man in der Mitte der Längswand .. eine Ehrentribüne, geschmückt mit den Wahrzeichen des neuen Deutschland, aufgestellt." 

Vor und nach der Veranstaltung erlebte die Halle zeittypische "schwungvolle Marschweisen, wobei unter den Klängen einer Standarte 29 "eine Kolonne des NS Freiwilligen Arbeitsdienstes  einmarschierte, "die auf besonderen Wunsch an der heutigen Feier ihres Werkes" teilnahm. Zum Abschluss der Feier spielte man nach dem Artikel der Weser-zeitung den Badenweiler Marsches, der als Lieblingsmarsch des Führers in offiziellen Veranstaltungen und Aufmärschen sehr häufig zu hören war, also auch damit eine Art der Ehrbezeugung für das neue Regime darstellte. 

Diese Zeit blieb bekanntlich nicht ohne Folgen, deren Zeuge auch die Fliegerhalle wurde. Al am 14. März 1943 amerikanische Bomber den Bremer Vulkan bombardierten, trafen zwei Sprengbomben trafen zwei Sprengbomben die BWK, die 28 Todesopfer zu beklagen hatte. Ihre Trauerfeier fand in der unzerstörten Fliegerhalle statt, wo die Nordbremer Bevölkerung von ihren Toten Abschied nehmen konnte


                      Feier zum 50. Geburtstag der BWK im Jahre 1934 (Quelle: Förderverein)


Die Halle 173 sah jedoch nicht nur politische Ereignisse, sondern hatte auch neben der bloßen Lagerung von Rohwolle eine weitere ökonomische Aufgabe zu erfüllen, die sich relativ leicht mit ihrem Hauptzweck verbinden ließ. So erlangte sie überrgionale Bedeutng durch Wollauktionen, zu denen Wollkaufleute aus ganz Deutschland nach Blumenthal kamen, die Wolle ersteigerten und mit der BWK Verträge über die Veredlung ihrer gekauften Rohwolle abschließen konnten.

Zusätzlich erlebte die Fiegerhalle kurz vor dem Ende der BWK noch eine Nutzung, für die sie baulich gar nicht vorgesehen war und die man daher als eine ganz besondere Auszeichnung bewerten kann. I
n den Jahren 1995, 1996, 1998 und 2000 diente sie als ganz besonderer Konzertsaal im Rahmen des Musikfestes Bremen, was für kulturelle Höhepunkte in Blumenthal sorgte.

Das ist jetzt zunächst einmal Vergangnheit. Die Fliegerhalle hat jedoch Regimewechsel, Krieg, Betriebsschließung und die Abrissbagger in ihrer Nähe überlebt. Wie man bei den Rundgängen auf dem BWK-Gelände am Tag des offenen Denkmals im September 2015 feststellen konnte, wird die Fliegerhalle inzwischen wieder als Lager benutzt. 



              Fliegerhalle am Tag des offenen Denkmals 2015 (Quelle: Förderverein)


Sie wird also für den Zweck genutzt, für den sie ursprünglich errichtet wurde. 


Spannender und für das Image Blumenthals von mehr Gewicht war jedoch ihr kurzer Ausflug in die Kunstwelt, der zwischen 1995 und 2000 erfolgte. 

Hier wird man sich rasch fragen, ob es sich dabei nur um eine eher kuriose Eskapade gehandelt hat, die die Bremer Woll-Kämerei als Kunstmäzen in die Zeitungen bringen sollte. Oder zeigt hier möglicherweise die Vergangenheit einen Weg auf, der Musikfreunden und jedem Blumenthaler in Zukunft mehr Kunstgenuss und Lebensqualität bringen kann.

Dazu sollen hier in einem Rückblick die damaligen Rahmenbedingungen erläutert und die Vor- und Nachteile der Nutzung als Konzerthalle beurteilt werden. Gleichzeitig  wird jedoch an die vier Konzerte auf der BWK erinnert werden. Auch sollen die Wünsche von Lesern nicht zu kurz kommen, die die damals in Blumenthal gespielte Musik jetzt hören wollen, auch wenn dazu andere Interpreten beitragen. (vgl. Links im Anhang)



Das Musikfest Bremen und seine ungewöhnlichen Konzertsäle

Im Jahr 1975, als das erste Konzert in der Fliegerhalle statttfand, hatte die BWK bereits mit den finanziellen Belastungen ihrer Großinvestition im australischen Geelong und vor allem der Situation auf dem Wollmarkt zu kämpfen, die zu einem Verlust von 22 Mio. DM im Konzern führten (Geschäftsbericht 1995, S.15)
Das Unternehmen hatte daher mit anderen Worten kein Geld, um es großzügig auszugeben. Das Interesse dürfte daher von den Organisatoren des Bremer Musikfests ausgegangen sein, die für ein geplantes Konzert der Sinfoniker aus Sydney einen Konzertsaal suchten, der einen Bezug zum fünftne Kontinent aufwies.



                       Aktueller Internetauftritt des Musikfestes Bremen


Ohne die Bremer Instituton "Musikfest" hätte e daher kaum Konzerte in der BWK-Fliegerhalle gegebn, da erst auf diese Weise ein Rahmen vorgegeben war, in den die BWK AG ihre eigenen Intentionen einpassen konnte. Ohne große eigene organisatorische Mühe konnte man sich in das Gesamkonzept einfügen und dadurch künstlerischen Glanz und die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit zur BWK und nach Blumenthal lenken.

Das Musikfest Bremen wurde nicht zuletzt mit diesen Intentionen 1989 vom Intendanten Thomas Albert auf Initiative des Bremer Senats und führender Partner aus der Wirtschaft gegründet, um die "kulturellen Strahlkraft des Standortes" Bremen und damit auch des jeweiligen Stadtteils zu stärken. 

Dabei setzten die Initiatoren auf Marktlücken, indem sie "ein Festival für das Besondere" schaffen wollten. Man achtet daher bei der Programmgestaltung gezielt auf stilistische Vielfalt und Bandbreite, die von der Klassik über Jazz und Weltmusik bis hin zu experimentellen Klängen reicht.

Ein weitere Besondeheit dieses "wunderbaren Höhepunktes im kulturellen Leben unseres Landes", wie es der Bremer Bürgermeister Henning Scherf ausgedrückt hat,  (Norddeutsche vom 4.9.2002), sind "ungewöhnliche" Aufführungsorte. Die Aufführungen finden, wie es in einem kurzen historischen Abriss des Musikfestes heißt, in zu Konzertsälen umfunktionierten Produktionshallen mit "ganz eigener progressiver Atmosphäre" und zudem in der Nähe zu den Sponsoren des Musikfestes Bremen statt. So konnte man die Musik nicht nur im Konzerthaus Glocke, dem St. Petri Dom, der Unser Lieben Frauen Kirche oder dem Rathaus erleben. Vielmehr waren "Vladimir Ashkenazy zwischen Kaffeesäcken, Sir John Eliot Gardiner in einer Schiffswerft, Anne Sofie von Otter in einem Fruchtterminal, Paquito D’Rivera in einem ehemaligen Schwimmbad, STOMP in einer ehemaligen Werfthalle oder Jessye Norman in einem Flugzeughangar zu sehen und zu hören."

Um die Kosten des Filmfestes zu stemmen, beteiligt Bremen verschiedene Gruppen von Sponsoren. So übernehmen Konzertsponsoren die exklusive Patenschaft für ein gemeinsam ausgewähltes Festival-Konzert. Dabei erhält der Sponsor als Gegenleistung seiner Gelder für sein Markekting eine exklusive Darstellung in der Konzertbewerbung ebenso wie Ehrenkarten, bevorzugte Kartenbestellmöglichkeiten, Einladungen zu exklusiven Musikfest-Veranstaltungen sowie die Unterstützung und Koordination von Empfängen.

Mit einem geringeren finanziellen Einsatz können Co-Sponsoren gemeinsam mit anderen Partnern die Förderung eines Musikfest-Konzertes 
übernehmen. Dafür erhalten sie in eingeschränktem Umfang ähnliche Gegenleistungen wie Konzertsponsoren.  

Schließlich kennt das Konzept des Musikfestes noch ein Beteiligungsangebot, wenn Unternehmen das Musikfest sowohl finanziell als auch ideell fördern wollen, aber kein spezielles Musikfest-Konzert unterstützen möchten. Die Gegenleistung besteht dann in Einladungen an die Vorstände oder Geschäftsführer dieser Gsellschaften zu exklusiven Musikfest-Veranstaltungen. Hinzu kommen Mitarbeiterrabatte für ausgewählte Konzerte und je nach Förderungshöhe auch Ehrenkarten.

Mit den Konzertortpartnerschaften kann noch ein besonders enger Bezug zwischen einem Unternehmen und der Kunstpräsentation im Rahmen des Musikfestes verbunden sein, wenn die Konzerte beim Sponsor in unkonventionellen Veranstaltungsorten tattfinden Dadurch sollen nicht nur "Exklusivität und Originalität in besonderer Weise" geschaffen werden, sondern auch die Möglichkeit entstehen, "die Region auf kulturelle Art und Weise (zu) entdecken". 


Nach dem Urteil der Organstoren wird dieses Angebt von Konzertbesuchern und Sponsoren gleichermaßen geschätzt. Dabei helfen auch innerhalb des Leistungspakets spezielle Marketinggegenleistungen und Ehrenkarten für das Konzert.


Von der Rohwolllagerung zur Musikpräsentation




Eine Lagerhalle für Rohwolle ist kein Konzertsaal. Vor dieser einfachen Wahrheit standen die Planer des Bremer Musikfestes, die einen Konzertsaal auf dem BWK-Werksgelände suchten. Für den baulichen Unterschied sind dabei vor allem die wichtigsten Aufgaben der beiden so verschiedenen Nutzungen ausschlaggebend. Während für die Wolle eine gute Durchlüftung und ein leichter An- und Abtrnsport wichtig sind, verdient die Akustik in einer Konzert- ud Theaterraum, in dem Instrmente oder menschliche Stimmen gehört und erlebt werden sollen, oberste Priorität. Strittig ist hingegen häufig, welche herausgehobenen Eigenschaften ein "Kunsttempel" sonst noch besitzen soll. Ihre sachgerechte Diskusson ist damit für die Eignung eines industriellen Gebäudes und damit den Erfolg einer Konzertveranstaltung zentral, wenn man das akustische Problem mehr oder weniger gut gelöst hat.




        Bühnenaufbau in der Fliegerhalle (Quelle: Sir Charles 46, S. 8 (Förderverein))


Für die Blumenthaler Verbindung von Musik und australischer Schafwolle wählte man die "Fliegerhalle", die der BWK als Lager für Rohwolle und vor allem wegen ihrer Größe zuvor schon als Versammlungsraum diente. Allerdings stellte die neue Nutzung ganz besondere Anforderungen an die Halle, die sich von denen einer Wolllagerung unterscheiden. Das galt etwa für die großen Maueröffnungen an der Stirnseite der Halle, was die Luftzirkulation und damit der Wolllagerung zugutekam, nicht jedoch einem konzentrierten Musikgenuss von Besuchern. Es mussten daher Tore installiert und - entsprechend den feuerpolizeilichen Auflagen - Notausgänge gebaut werden. Dieser Hallenumbau, der die Voraussetzungen für eine weitere Verwendung als Konzertsaal in den folgenden Jahren schuf, soll insgesamt knapp 20.000 DM gekostet haben.

                         Rohwollballen im Einsatz für die Akustik (Quelle: Förderverein)



Australien in Blumenthal


Die Verbindung zwischen der Bremer Woll-Kämmerei und dem Musikfest, die im Jahr 2000 einen Höhepunkt, aber auch bereits wegen der wirtschaftlichen Situation der BWK ihr Ende erlebte, hat 1995 begonnen. 



                                Plakat von 1995 (Quelle: Sir Charles, 26, S. 2 (Förderverein)





Damals suchte der Leiter des Bremer Musikfestes nach einem australischen Ambiente in Bremen, um damit einen Bezug für ein Konzert des Sydney Symphony Orchestra unter der Leitung ihres Dirigenten Edo de Waart und den Besuch der Gattinnen des australischen Premierministers Keating und des australischen Botschafters in Deutschland herzustellen. 



Da drängte sich ein suchender und prüfender Blick auf die BWK zwangsläufig auf, da hier große Teile der australischen Rohwolle bereits seit Jahrzehnten gewaschen und gekämmt wurden. Auch hatte man zwei Jahre zuvor mit der Wollkämmerei in Geelong einen zweiten großen Standort neben Blumenthal auf dem fünften Kontinent in Betrieb genommen.



Wie der Pressesprecher anschließend die Öffentlichkeit informierte, war der Vorstand von dieser Idee „hellauf begeistert“ und entschloss sich, "trotz „schwieriger Wirtschaftslage“ seinen Sponsorenvertrag für das Musikfest zu leisten und eine Lagerhalle zur Verfügung zu stellen.“ (Norddeutsche vom 31.8.1995)




                    Sydney Symphony Orchestra (Quelle: BWK-Geschäftsbericht 1995, S. 3)



Es waren jedoch nicht nur bauliche Veränderungen erforderlich, um aus einer Lagerhalle für Rohwolle einen Konzertsaal zu machen. So musste das Jugendorchester Bremer-Nord an mehreren Tagen Probesequenzen spielen, um Mikrofone und Kameras auszurichten und einzupegeln.



Für die geladenen Gäste der Konzertveranstaltung gab der BWK-Chef - es war Herr Georgi, der mit seiner Entscheidung zugunsten eines australischen Kämmereistandortes in Geelong ein ganz besonderes Verhältnis zum Schafwollkontinent auf der Südhalbkugel hatte - zunächst einen Empfang mit den üblichen Begrüßungsreden.  Dabei unterhielt der BWK-Vorsitzende seine Gäste mit einer Anekdote, in der die Bedeutung der BWK für die Wollindustrie herausgestellt wurde. Danach konnte Anfang des 20 Jahrhunderts der australischen Premierminister beim Besuch einer Abordnung aus Bremen diesen Herkunftsort nicht lokalisieren. Um seine regionale Vermutung zu überprüfen, fragte er daher: „Bremen - liegt das nicht bei Blumenthal?“



Insgesamt wurde das Konzert der australichen Sinfoniker für knapp 2.000 Besucher (Sir Charles, 26, S. 2) zu einem einmaligen Erlebnis, und das nicht zuletzt wegen des besonderen Ambientes, wobei das „grelle Ausleuchten der Bühne die Schatten vertiefte und eine unwirkliche Atmosphäre schuf“. Für das Gesamterlebnis war aber vor allem die Musik verantwortlich. So schrieb damals Ulf Fiedler in der "Norddeutschen": „Mozarts Musik überwand mühelos das Sperrige, Monströse der Umgebung und verwandelte mit ihrer magischen Kraft die Lagerhalle in einen Konzertsaal.“ (Norddeutsche vom 4.9.1995)



Der Pianist und Gastsolist Christian Zacharias war von der Atmosphäre in der Wollhalle sehr beeindruckt, wie die Werkszeitung über diesen 2. September 1995 berichtete: "zuerst denkt man, das geht doch gar nicht. Und dann klingelt's  und es ist unvergesslich. Ich finde solche Orte sollte man entdecken und viel mehr Musik dort machen".  (Sir Charles, 26, S. 2)



Das Ambiente war im September 1995 jedoch nicht alles. Es gab auch Musik, die sich im Internet, wenn auch von anderen Interpreten, weiterhin anhören lässt.



Gespielt wurden: 



-  Enyato III als deutsche Erstaufführung des Komponisten Ross Edwards,  




Partiturauszug aus "Enyato III" (Quelle: wikipedia)




- das 24. Klavierkonzert c-moll von Wolfgang Amadeus Mozart und zum Abschluss 



- die Alpensinfonie von Richard Strauss





                               Anzeige zur Veranstaltung am 10.9.1996 in der Fliegerhalle


Synthetische Töne statt Rohwolle


Sprach beim Bremer Musikfest 1995 für das Konzert des Orchesters aus Sydney in der BWK-Lagerhalle der gemeinsame Bezug um 5. Kontinent, galt diese simple regionale Verbindung nicht für die folgenden Veranstaltungen, die in den kommenden Jahren auf dem Werksgelände der BWK erfolgen sollten. Für die Wahl eines ungewöhnlichen Konzertsaals in einem großen Industriebetrieb mussten jetzt Argumente sprechen, die sich aus der präsentierten Musik ableiten ließen. So benötigten die Macher des Musikfestes im Jahr 1996 offenbar einen Raum, der nicht unbedingt den Wohlfühlinteressen eines klassischen Konzertbesuchers entsprach. Vielmehr sollte bereits das räumliche Ambiente einen Kontrapunkt zu vielen üblichen Erwartungen setzen.

Dieselbe Vorliebe für Gegensätze galt in diesem Fall bei der Auswahl der Musikstücke, die vom Ensemble Modern gespielt wurden. So standen gleichzeitig "Mixtur" von Karlheinz Stockhausen aus dem Jahr 1964, d.h. ein Stück, in dem der Komponist teilweise die klassischen Orchesterinstrumente durch elektronische Klänge ersetzte, und Beethovens 5. Sinfonie auf dem Programm, also eines der berühmtesten und populärsten Stücke der klassischen Musik, das auch unter der Bezeichnung "Schicksalssinfonie" bekannt ist und dessen erste Aufzeichnungen bis in das Jahr 1800 zurückreichen.

Um seinem Publikum einen Brückenschlag für diese extrem kontrastreiche Zusammenstellung des Konzerts anzubieten, musste sich der Dirigent Peter Eötvös zunächst in einer Ansprache "redlich mühen", seine Begeisterung für Stockhausen und seine Verehrung für Beethoven zu vermitteln. Neben diesen subjektiven Emotionen fand er dabei eine Gemeinsamkeit in der Rolle der beiden Kompositionen als "Revoluzzer, als Eisbrecher für ein kommendes, grundsätzlich Neues." Allerdings scheint das trotz des großen Engagements nicht vollkommen gelungen zu sein, wie die Kunstrezension im Weser-Kurier trotz aller üblichen Höflichkeiten erkennen lässt. (Weser-Kurier vom 12.9.1996)


                                            Orchester 1996 (Quelle: Sir Charles, 30, S. 2 (Förderverein))



Ein Komponist mit Vorgeschichte


Ein Grund für die skeptische Haltung können Anekdoten und Geschichten gewesen sein, die über den Komponisten kursierten. So wurde sogar von einem handfesten Skandal im November 1969 berichtet, als in der Bonner Beethovenhalle sämtliche Werke Stockhausen aufgeführt wurden, wozu der Künstler als musikalische Verbindung ein Instrumentalglissando geschrieben hatte, das er "Fresco" nannte und das seine Uraufführung in der seinerzeitigen Bundeshauptstadt erlebte.

Damals soll es zu einer kleinen Revolution der Musiker gekommen sein, die sich aufgrund ihres Musikverständnisses weigerten, die neuen Töne in der von Karlheinz Stockhausen vorgegebenen Anordnung einem Publikum zu präsentieren. Sie hinterfragten damals  Anweisungen wie „Glissandos nicht schneller als eine Oktave pro Minute“ und informierten sich sogar telefonisch bei ihrer Gewerkschaft, ob sie als Teil des Orchesters unter Bedingungen, die für sie nicht mit ihrem Berufsverständnis als Orchestermusiker im Einklang standen, tatsächlich zum Spielen verpflichtet seien. Ihren Protest gegen ihre "Zwangsarbeit" machten die Musiker sogar während der Uraufführung deutlich, als das Publikum auf einem Schild „Wir spielen oder wir werden entlassen!“ lesen konnte. Auch sollen während der Aufführung bei einigen Notenpulten plötzlich Karten mit dem Text „Stockhausen-Zoo. Bitte nicht füttern!“ zum Vorschein gekommen sein. 

Einige Musiker drückten ihr Missfallen gegenüber Stockhausens Musik und damit ihrer eigenen künstlerischen Arbeit sogar durch eine sichtbare Arbeitsverweigerung aus, als sie vorzeitig das Konzert verließen, obwohl der Komponist eine Präsentation seines Tonarrangements von vier bis fünf Stunden angesetzt hatte.

Aber es gab nicht nur diesen ganz besonderen arbeitsrechtlichen Konflikt zwischen dem Komponisten als Chef und den Musikern als den notwendigen Produzenten der Töne. Auch unter den Musikliebhabern bildeten sich Parteien. So protestierten die Stockhausen-Fans gegen das Verhalten der Musiker, während Stockhausen-Gegner nach einem Bericht im Nachrichtenmagazin Spiegel auf Turnmatten, die vom Bundesgrenzschutz ausgeliehen waren, Petting übten, Skat spielten und das Orchester hänselten: "Eine herrliche Pinkelmusik, die ihr da spielen müßt!". 

Schließlich endetet die Uraufführung als Debakel, da es Unbekannten gelungen war, die Lichter an den Pulten auszuschalten, so dass die Musiker im Dunkeln saßen. Die Aufführung endete daher nach 260 Minuten, weil die Orchestermusiker ihre Mitwirkung mehr der weniger freiwillig eingestellt hatten.


Die musikalische Mixtur in der Fliegerhalle


Eine solche aufgeladene Atmospähre gab es an den Weser nicht. Schließlich hatte man sich drei Jahrzehnte lang mit der Musik des Komponisten Stockhausen vertraut machen können. In Blumenthal erlebte man vielmehr durch die Kombination von Stockhausen und Beethoven ein "ungewöhnliches Konzert in einer ungewöhnlichen Umgebung" erleben, wie es der bekannte Blumenthaler Autor Ulf Fiedler beschrieb (Norddeutsche vom 12.9.1996), oder als einen "Mix aus Beethoven und Ringmodulatoren", wie es Stephan Cartier als Titel für seine Schilderung wählte. (Weser-Kurier vom 12.9.1996) 

Damit sich Konzertbesucher auf die anschließende Klassik um- und einstellen konnten, folgte auf Stockhausens „Mixtur“ nach einer „angemessenen Pause“, worauf Ulf Fiedler besonders hinweist, Beethovens Schicksalssinfonie, also eine so bekannte Komposition, dass man sie nicht weiter erläutern muss.  


Das Blumenthaler Publikum


Für die Veranstalter des Musikfestes Bremen wird das Konzert des Dirigenten Peter Eötvös kein großer Erfolg gewesen sein, was allerdings kaum eine Überraschung war. Das dürfe zumindest für die finanzielle Seite zutreffen, wenn nur die Hälfte aller Plätze verkauft werden konnte. 

Es scheint Goethes viel zitirte Regel, die er den Theaterdirektors im Faust rezitieren lässt "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus." nicht in jedem Fall zu gelten, vor allem dann nicht, wenn zwei so unterschiedliche Vorstellungen von Musik zusammenprallen. Experimentalmusik und Klassik haben eben ein unterschiedliches Publikum, das nicht unbedingt neugierig auf andere Klangangebote ist, sondern vor allem seine eigenen Vorlieben ohne Störungen erleben und genießen will. Das trifft zweifellos  zumindest auf den Stockhausen-Teil zu, da in diesem Fall, wie in der BWK-Mitarbeiterzeitung Sir Charles erläutert wurde, "traditionelle Hörgewohnheiten über Bord geworfen werden" mussten (Sir Charles 30, S.2)
    
Aber das sprach nicht gegen die Wahl des umfunktionierten Konzertsaals in der BWK, wodurch das vom Dirigenten vertretene Konzept der Gegensätze und Kontraste von der Musik aus in ihren Präsentationsraum erweitert wurde. Für den Konzertfreund Ulf Fiedler hätte diese Wahl auch dem Komponisten Stockhausen gefallen, der die "Erfassung des Konzertraums in das Geschehen der Musik thematisiert" hat. Er sprach daher sogar trotz der unbesetzten Plätze vermutlich wegen seiner eigenen Erwartungen von einem "zahlreichen Publikum".

Die Zuhörer in Blumenthal haben jedenfalls, wie Ulf Fiedler feststellte, "dem Neuen durch (ihren) Beifall Respekt und Anerkennung" erwiesen. Enthusiasmus und damit eine deutliche Empfehlung für weitere Konzerte an diesem Standort außerhalb der zentral gelegenen Musiktempel folgten allerdings erst auf den Beethoven-Teil: "Das Finale als Triumpfmarsch verströmte Helligkeit und sieghafte Freude. Ein ungetrübter Hörgenuß, dem lang anhaltender Beifall und mehrere Herausrufe folgten." (s.o) 
  

US-amerikanische Jazz-Kompositionen aus einer Fliegerhalle 


Die begonnene kleine Konzerttradition in der BWK-Fliegerhalle, die das  Musikfest Bremen zur Verfügung stellte, wurde nach den beiden ersten Jahren unterbrochen. Aber darin zeigte sich kein kulturelles Desinteresse der Unternehmensleitung der Bremer Woll-Kämmerei; denn die BWK AG sponserte 1997 eine Oper im klassischen Bremer Konzerthaus Glocke auf der Domsheide, also ganz zentral im Herzen der Wesermetropole.


Publikumserfolg mit Klaus Maria Brandauer in der "Brücke


Dort beteiligte sich das Blumenthaler Unternehmen am 20. September "kurzentschlossen" an der Aufführung des dramatischen Gedichts in drei Abteilungen "Manfred". (Sir Charles, 35, S. 8) Bei dem Stück handelt es sich um sehr selten aufgeführtes Werk mit der Musik von Robert Schumann, der den ursprünglichen Text eines Gedichts des englischen Romantikers Lord Byron von 1336 auf 975 Verse verkürzte und es 1848 unter dem Namen "Manfred – dramatisches Gedicht mit Musik" vertonte.


Die Zuschauer erlebten auch dannk des Sponsors BWK eine sensationelle Aufführung mit dem Weltstar Klaus Maria Brandauer, dem Balthasar-Neumann-Chor und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unter der Leitung von Thomas Hengelbrock. Die Künstler machten dies ungewöhnliche Konzert zu einem Ereignis, das selbst das zurückhaltende Bremer Publikum erstmals seit Bestehen des Musikfestes zu "standing ovations" hinriss.(Pinter)

Damit war für die Macher des Musikfestes die Aufführung in der Brücke ein großer Erfolg. Aber nicht nur für sie. Auch das Publikum war hellauf begeistert und sogar teilweise mit der positiven Schilderung im Feuilleton des Weser-Kuriers unzufrieden. So schrieb ein Zuhörer in einem Leserbrief als Kritik an den Kritikern: "Sie sollten die Begeisterung aus dem Glockensaal hinaus in die Stadt tragen, damit andere aufhorchen oder wachgerüttelt werden und sagen: "Da hab ich etwas verpaßt - und das in Bremen."

Weniger glücklich dürfte dieser Erfolg die Entscheidungsträger in der BWK gemacht haben; denn sie hatten ihr Unternehmen zwar als Sponsor an einer mehr als gelungenen Veranstaltung beteiligt, was die Lokalpresse jedoch in der Berichterstattung unerwähnt ließ. 


    Anzeige für das Konzert in der BWK-Fiegerhalle am 5.9.1998


Die BWK-Geburtstagsfeier für Gershwin


Im folgenden Jahr konnte man das Ziel, das jede Marketingabteilung verfolgt, wenn sie eine Veranstaltung sponsert, jedoch erreichen. Man begrüßte diesmal 2.000 begeisterte Gäste in der Fliegerhalle, wie die Werkszeitung hocherfreut schrieb (Sir Charles, 38 ,S. 7), denn entsprechend dem Programm mussten die Musikliebhaber keine Konfrontation mit den Tönen eines Herrn Stockhausen erwarten. Stattdessen waren bekannte Musiker und Stücke angekündgt, womit sich der Weg in den Bremer Norden zu lohnen schien.

In der Kurzfassung des Programms war das Deutsche Sinfonie Orchester Berlin mit einer "Gershwin Birthday Party" ausgewiesen, auf der tatsächlich gleich zwei Orchester für die notwendige Musik sorgten, und zwar neben den Sinfonikern auch die RIAS Big-Band. Zusätzlich lockten als Solisten die Sopranistin Roberta Alexander und die Pianistin Ewa Kupiec Kenner in die Fliegerhalle.


Ein 100. Geburtstag in einem noch älteren Unternehmen


Der gefeierte Jubilar George Gershwin hätte 1998 seinen hundertsten Geburtstag feiern können, wenn er nicht schon bereits als Vierzigjähriger verstorben wäre.

Dieser besondere Anlass für das Konzert konnte auch ein Anstoß für einen Rückblick auf die Geschichte der BWK sein, die im Geburtsjahr des US-amerikanischen Komponisten bereits fünfzehn Jahre alt war und in Gershwins Geburtsjahr 1898 schon eine üppige Dividende von 25 % auf das eingezahlte Grundkapital ausschütten konnte, dessen Wert sich gleichzeitig in diesem Zeitraum auf 300 % verdreifacht hatte. Von dieser vorteilhaften Entwicklung profitierten jedoch nicht nur die Eigentümer, sondern auch die Mitarbeiter und vor allem die sich entwickelnde Industriestadt Blumenthal. Immerhin wurden 1898 bereits 2.203 Mitarbeiter beschäftigt, nachdem man im Gründungsjahr 1883 mit 150 Beschäftigten begonnen hatte.

Wie zur Zeit des Konzerts der beiden Berliner Orchester lassen sich auch heute ganz reale Steine auf dem BWK-Gelände anfassen, die dort in Gershwins Geburtsjahr vermauert wurden, und damals gebaute denkmalgeschützte Gebäude besichtigen. Dabei handelt es sich um das Kessel- und das Maschinenhaus sowie die Nadelsetzerei an der Landrat-Christians-Straße, die später zu den Arkadenhäusern umgebaut wurden, sowie an der heutigen Historischen Achse die Kammzuglager und die kaufmännische Verwaltung.


Gershwin und mehr für Gershwin


Was wurde nun dem Publikum auf dem BWK-Gelände musikalisch angeboten? Die offene Bezeichnung der Konzertveranstaltung ließ viel Platz für eine inhaltliche Konkretisierung. Das wurde von den beiden Dirigenten genutzt, die ein "dramaturgisch geschickt zusammengebasteltes Programm" (Weser-Kurier vom 7.9.1998) auf die Bühne der Fliegerhalle brachten. So begann das Konzert mit bekannten Kompositionen Gershwins wie "Ein Amerikaner in Paris" und "Rhapsody in Blue", also Verbindungen von Jazz und konzertante Sinfonik. Damit unterhielten die Musiker zunächst die Partybesucher mit Kompositionen des verstorbenen amerikanischen Geburtstagskindes, das sie auf diese Weise gleichzeitig ehrten.


Die jazzigen Glückwünsche der Berliner Big Band


Mit der Musik und ihrer Interpretation kam für den Musikkritiker des Weser-Kuriers Amerika nach Blumenthal, wenn von "auf Hochglanz gewienerter Wolkenkratzer-Musik" geschrieben wurde, weil der Dirigent das Orchester zu "vibrierender Intensität" trieb. (Ebenda)

Die RIAS Big Band stellte anschließend den Jazz stärker in den Vordergrund und ""gratulierte" mit Pfiff und Emphase". (Ebenda) Dabei stand auch in diesem zweiten Teil des Konzerts zunächst Gershwin im Vordergrund, und zwar mit seiner in den 1930-er Jahren entstandenen „American Folk Opera“ Porgy and Bess, wie sie von der New York Times genannt wurde. Auch wenn die durch Rohwollballen verbesserte Akustik der provisorischen BWK-Konzerthalle nicht gerade an den Baumwollanbau im Süden der USA hinwies, lernten die Zuhörer das Leben von Afroamerikanern in der Schwarzensiedlung Catfish Row in Charleston um 1870 kennen.

Dazu dienten die beiden bekanntesten und von zahlreichen Musikern aufgenommen Arien der Oper, und zwar "die Liebeserklärung der Bess für Porgy" "I loves you, Porgy" und "Summertime", das in der Oper viermal zu hören ist und das leichte Leben während des Sommers auf die Bühne bringt, wenn man "am Fluss die Fische springen sieht und die Baumwolle reif ist".

Mit dem Stück "Knoxville Summer of 1915" musste das Publikum von den Kompositionen des geehrten Komponisten und zunächst auch von den Sinfonikern Abschied nehmen; denn die folgende RIAS Big Band spielte Stücke von Duke Ellington, Count Basie und Benny Goodman

Besonders eindrucksvoll wurde dabei das Stück "Take the “A” Train" vorgetragen, das als Symbol der Swing-Ära gilt. Diese Komposition Billy Strayhorns aus dem Jahre 1939, die das Duke Ellington Orchestra ab 1941 als Erkennungsmelodie verwendete, war allerdings in der Fliegerhalle kaum wiederzuerkennen, "denn die Arrangements waren der Band auf den Leib geschneidet". (Ebenda)

Nach dreieinhalb Studen Musik endete die Geburtstagsparty für den großen US-amerikanischen Komponisten George Gershwin landestypisch; denn die beiden Orchester spielten gemeinsam dirigiert den amerikanischen Militärmarsch "Stars and Stripes Forever", der den deutschen Titel "Unter dem Sternenbanner" trägt und 1896 von dem "König der Marschmusik" John Philip Sousa komponiert wurde.


Der BWK-Konzertsaal im Rückblick



Dieser emphatische Schluss sorgte beim Blumenthaler Publikum für eine "zum Jubel hochgepeitschte Huldigung". Damit waren auch für den Kritiker im Feuilleton des Weser-Kuriers die Anstrengungen und Mühen vergessen, die aus einer "auf dreieinhalb Stunden gedehntem" Konzertdauer und einer "akustisch nicht gerade idealen Woll-Kämmerei" resultierten. Am Ende hatten "der prächtige Sound, das in leuchtenden Farben pulsierende Zusammenspiel, die weiträumig gesteigerten rhythmischen Charakteristiken samt ihrer schneidenden Schärfe" gefesselt und "die Stimmung der Zuhörer immer wieder hochgerissen“.

Der Musikkritiker Simon Neubauer gelangte daher im Weser-Kurier zu dem Resümee: "Der weite Weg lohnte also die Teilnahme an dieser zwar recht langen, aber abwechslungsreichen Geburtstagsfeier".

Trotz kleinerer Defizite in der Akustik hatte sich damit die Fliegerhalle mit einem entsprechenden attraktiven Programm als multifunktionaler Konzertsaal empfohlen und damit für einen lokalen Kulturstandort Blumenthal geworben.




                                              Titelblatt von 1897 (Quelle: wikipedia)


Aufstieg und Fall Blumenthals




Wer heute über das BWK-Gelände geht, wird kaum glauben können, dass es hier wie auch in anderen Teilen Blumenthals vor mehr als einem Jahrzehnt einmal ein reges kulturelles Leben zu finden war. Eine der letzten Veranstaltungen dieser Blütezeit, die eine besondere symbolische Bedeutung besitzt, fand am 8. September 2000 ebenfalls in der Fliegerhalle statt.



Dieses Jahr an der Jahrtausendwende bedeutete für die BWK und damit auch für Blumenthal einen ganz besonderen Einschnitt; denn das Unternehmen hatte nach zwei herben Verlustjahren mit Elders einen neuen Großaktionär bekommen, wodurch die Geschäftspolitik nicht nur in Blumenthal und Bremen bestimmt wurde, sondern vor alle auch entsprechend den Interessen des großen Eigentümers und Kapitalgebers im fernen Australien.




Ein großes kulturelles Finale




                                Plakatwerbung 2000 (Sir Charles, 46 ,S. 8 (Förderverein))


Als Finale der kulturellen Blütezeit Blumenthals wurde die Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" gespielt. Diese Aufführung erfolgte im Rahmen des 11. Musikfestes Bremen durch das BBC Philharmonic Orchestra, während bei der Auswahl des Stückes das damalige Weill-Jahr eine Rolle gespielt hat. 



Damit scheint die Oper sogar durch ihren Titel einen Bezug zum Austragungsort zu besitzen, da Blumenthal mit der Gründung der BWK einen raschen Aufstieg zu einer industriell geprägten Kreisstadt erlebte, bevor sich mit dem folgenden Niedergang des Großunternehmens die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen deutlich verschlechtert haben.




Reales und fiktives Mahagonny




Sieht man von dieser Möglichkeit einer speziellen Interpretation des Titels ab, lässt sich das fiktive Mahagonny nicht mit dem realen Blumenthal verglichen, da in dem vom Bremer Kaufmannsgeist geprägten Unternehmen nicht die Moral von Sodom und Gomorra Einzug gehalten hat, wie es der Marxist Bertolt Brecht für seine kapitalistische Modellstadt jenseits des Atlantiks erwartet. Während etwa die Frauen in Mahagonny nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern auch ihre Körper verkaufen mussten, wurde in  Blumenthal zwischen dem Management und den Arbeitnehmern über Lohnhöhen, Arbeitszeiten und die Rolle des Betriebsrates und der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gestritten.



In der Oper, die im intellektuellen Klima der Berliner Roaring Twenties entstanden ist, wird damit wie auch in anderen Stücken Brechts die These dichterisch umgesetzt, nach der im Kapitalismus Moral und Ethik der Profitmaximierung untergeordnet werden. Das gilt dann wie unter einem Brennglas idealtypisch in einer Goldgräberstadt, also einer boomenden Siedlung, die kaum stabile Institutionen aufweist.


Das Blumenthaler Woll-Ambiente


Auch wenn die Vorstellung im Jahr 2000 nicht mehr wie noch die anderen Aufführungen einige Jahre zuvor von de BWK wegen ihrer angespannten Finanzsituation finanziell unterstützt wurde (Sir Charles, 45, S.8), sorgte die Kämmerei für ein ganz besonderes Ambiente, die vermutlich einmalig auf der Welt war. Diesen Unterschied machten die Rohwolleballen aus, die an den Wänden der in der 30 m breiten und 70 m langen freitragende Fliegerhalle 2,5 m hoch aufgestapelt waren, um den "Hall zu dämpfen",wie Patric Leo, der Technische Direktor des Musikfestes, erläuterte. Trotzdem hatte dieses Provisoriums hatte für ihn die „spröde alte Halle“ ihren besonderen Reiz. (Norddeutsche vom 7.9.2000)


Aber nicht nur diese Wollballen, die "gut für die Akustik" waren, erinnerten während der Opernaufführung an den ganz realen Ort der musikalischen Events, denn die Rohwolle schluckte nicht nur Töne, sondern gab auch Geruchsmoleküle an die Umgebung ab. 1.200 Besucher erlebten also eine Oper mit Schafsgeruch. Dazu zählten auch viele Mitarbeiter der BWK und Blumenthaler, die, wie der BWK-Sprecher anmerkte, "die Konzerte" nutzten, "um das gleich vor ihrer Haustür liegende Unternehmen endlich auch einmal aus der Nähe zu sehen."



Zusammenfassend titelte die Werkszeitung über dieses Kunstereignis mit realen Bezügen damals: "Bravo-Rufe für Brecht's Kapitalismus-Kritik" (Sir Charles, 46, S. 8)





Die Zukunft der Fliegerhalle

Nachdem die Fliegerhalle Ende 2003 von der BIG, die in der Wirtschaftsförderung Bremen (WFB) aufgegangen ist, gekauft wurde, schien bis 2007 die künftige Nutzung des BWK-Geländes und der vorhandenen Gebäude völlig ungeklart zu sein und das gab noch Raum für Träume, als der SPD-Ortsverein Blumenthal Ende April 2007 zu einer öffentlichen Begehung eingeladen hatte. So wollten die lokalen Sozialdemokraten ein "verträgliches Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten". Dabei wurde für die Fliegerhalle, die damals weiterhin als Lager genutzt wurde und auch die Bremer Wirtschafsförderer erhalten wollten, eine Nutzung als Factory Outlet, als Konzertsaal oder als Disco angedacht. 

Eine Alternative schlug 2010 ein Student der Hochschule für Technik zur Stadtgestaltung vor, der aus der Lagerhalle "unter Erhalt alter Bausubstanz" einen Wohnkomplex machen wollte, wie eine Ausstellung in der Blumenthaler Sparkasse zeigte.(Bahr 2010)

Diese Jahre der kreativen Fanatsie beendete der Eigentümer, als er im März 2011 ein Vermarktungskonzept vorlegte. Darin waren einerseits die Gebäude aufgeführt, die vor allem aus Gründen des Denkmalschutzs auf dem BWK-Gelände erhalten bleiben sollten. Andererseit legte man eine vage zukünfige Verwendung fest, wenn es hieß: "Dieses Gebäude soll, soweit wirtschaftlich möglich und mit der zukünftigen Neuordnung des Geländes in Einklang zu bringen ist, ebenfalls einer neuen Nutzung zugeführt werden." Was darunter genauer zu verstehen war, blieb weitgehend offen, denn der Öffentlichkeit wurde durch die Presse nur mitgeteilt, dass damit eine Nutzung von "Gewerbetreibenden" gemeint ist. (Brandt)


Da die WFB bisher keine Konkkretiseriung oder einen Verkufeer anbieten konnte, ist durch die Ende 2015 gegrüdete Initiative Alt-Blumenthal eine neue Diskussion angeret woden. So hat der stellvertretende Beiratssprecher als einen thematischn Anreiz für den Besuch einer ersten Versammlung ganz offen gefragt: "Was machen wir mit der Wollkämmerei? und "Wie könnte man die Fliegerhalle nutzen?" (Bahr 2015)

Damit bietet die Fliegerhalle als fester Bestandteil der denkmalgeschützten Gebäude der BWK die Möglichleit, ihren umbauten Raum wiederum als Angebot für kulturelle Ereignisse zu nutzen. Die materielle Infrastuktur, auf der organisatorische Ideen und Planungen aufbauen können, ist vorhanden. Es fehlen nur Initiativen, die mit realisierbaren Vorschlägen diese Chance nutzen wollen und können. 

Dabei kann auf die Erfahrungen aus den drei oder vier Konzertveranstaltungen zurückgegriffen werden, die vor Jahren von der BWK gesponsert wurden. Die sprechen - ganz kurz zusammengefasst - im musikalischen Bereich für Konzerte, die keine Experimente bei der Auswahl der Musik versuchen, aber einen sinnvollen Bezug zu einer Halle mit industriell-logistischer Hauptfuktion besitzen. Musikgenuss für 2.000 Besucher, ein ausverkauftes Haus mit 2.000 besetzten und verkauften Plätzen und nicht zuletzt ein kulturell aufgewertetes Image für Blumenthal können die Belohnung für die mutigen Organisatoren sein.  

Und das gilt nicht nur für Musik und Kunstfreunde, denn durch die Fliegerhalle und das Musikfst Bremen kam auch der Glamour von echten Promis nach Blumenthal, so beim "Australien-Abend" mit den Sinfonikern aus Sydney die Gattinnen des australischen Premierministers, Mrs. Annita Keating, und des australischen Botschafters in Deutschland, Mrs. Jutta Hughes.



Empfang des BWK-Vorstandes für die weiblichen Ehrengäste 1995 (Sir Charles, 26, S. 1        (Förderverein))





Quellen:

Bahr, Albrecht-Joachim, Viermal Zukunft für die Wollkämmerei. Sparkasse Blumenthal zeigt Entwrfe von Studenten der Hochschule für Technik zur Stadtgestaltung. Ziel: Hinwendung zur Weser, in: Norddeutsche vom 22.3.2010.

Ders., Ideen für Alt-Blumenthal. Initiative lädt Bürger für Sonntag zu einer Informationsveranstaltung ein (Interview mit Hans-Gerd Thormeier), in: Norddeutsche vom 27.11.2015.

Bickmeier, Sabine, Geschliffene Klänge statt roher Schurwolle. Sydney Symphonic Orchestra in der Woll-Kämmerei, in: Norddeutsche vom 31.8.1995.

Brandt, Patricia, Unverwechselbare Adresse in Blumenthal. Vermarktungskonzept für Gelände der Bremer Wollkämmerei liegt vor: Gewerbe in historischem Ambiente, in: Norddeutsche vom 23.3.2011.

Cartier, Stephan, Mix aus Beethoven und Ringmodulatoren. Das Ensemble Modern und Peter Eötvös mit Kontrasten, in: Weser-Kurier vom 12.9.1996.

Cohrs, Gunnar, Highlights en masse an heimeligen Orten. Das Bremer Musikfest 1997 verspricht vom 7. September bis zum 1. Oktober insgesamt 31 Konzerte, in: Weser-Kurier vom 11.6.1997.

Fiedler, Ulf, Lagerhalle wurde Konzertsaal. Sydney Symphonic Orchestra spielte. Australiens First Lady in Blumenthal zu Gast, in: Norddeutsche vom 4.9.1995.

Ders., Scharfkantige Improvisationen. Peter Eötvös dirigierte Konzert mit "Ensemble Modern" in Lagerhalle der BWK, in: Norddeutsche vom 12.9.1996.

Kaßler, Barbara, "Atmosphäre überwiegt die Akustik-Defizite." Musikfest-Besucher von Oper in BWK-Halle begeistert, in: Kurier am Sonntag vom 10.9.2000.

Keller, Gabriela, Suchen nach Investitionen läuft. BIG bereitet altes BWK-Gelände für Neunutzung vor. Uferwanderweg möglich, in: Norddeutsche vom 30.4.2007.

Neubauer, Simon, Frohe Wolkenkratzer-Musik. Opulente Geburtstagsparty für Gershwin in der Wollkämmerei, in: Weser-Kurier vom 7.9.1998.


Ders., Der bissige Brecht in einer Lagerhalle, in: Weser-Kurier vom 8.9.2000.

Ders., "Mahagonny" im Breitwand-Format. Wollkämmerei als stimulierender Austragungsort, in: Weser-Kurier vom 11.9.2000.

NN, 50 Jahre Bremer Wollkämmerei. Jubelfeier in Blumenthal, in: Weser-Zeitung vom 16.10.1934.


NN, Mit Pauken und Trompeten. Ungewöhnlich: Konzert in der Bremer Woll-Kämmerei, in: Sir Charles, 26, S 1f.

NN, Musikfest 1996. Beethoven in Halle 173, in: Sir Charles, 29, S. 3.

NN, Hast Du Töne? Musikfest 1996 in Halle 173, in: Sir Charles, 30, S. 2.


NN, Begeisterungsstürme für einen Weltstar. BWK sponsert Konzert mit Kaus Maria Brandauer, in: Sir Charles, 35, S. 8.

NN, Leserbriefe, in: Weser-Kurier vom 2.10.1997. 

NN, Gershwin in der Bremer Woll-Kämmerei. Das Musikfest kommt am 5. September mit dem Deutschen Symphonie-Orchester nach Blumenthal, in: Norddeutsche vom 29.8.1998

NN, Gershwin goes Blumenthal. Musikfest 1998, in: Sir Charles, 37, S. 8. 

NN, Musikfest. BWK nur Gastgeber. Brecht in der Rohwollhalle, in: Sir Charles, 45, S. 8.

NN, Musikfest: Ausverkauft. Bravo-Rufe für Brechts Kapitalismus-Kritik, in: Sir Charles, 46, S. 8.

Pinter, Eva, Weg eiens ruhelosen Geistes. Schumnns "Manfred" mit der Deutschen Kammerphilharmonie, in: Weser-Kurier vom 22.9.1997.

Wesslau, Volker J., Rohwolle ist gut für die Akustik. Musikfest Bremen: In BWK-Lagerhalle liefen die Vorbereitungen für das Konzert an, in: Norddeutsche vom 7.9.2000.

Wurthmann, Manfred, Konzertereignisse in ausgefallener Kulisse. Musikfest gastiert bei Woll-Kämmerei und ASL, in: Norddeutsche vom 13.8.1996.


Anhang


Konzerte des "Musikfestes Bremen" in der Fliegerhalle



Datum
Konzert
Stücke
youtube-Angebote
2.9.1995
Sydney Symphony Orchestra
Ross,  Enyato III


Mozart, 24. Klavierkonzert c-moll


R. Strauss, Alpensinfonie

10.9.1996
Ensemble Moderne
Stockhausen, Mixtur


Beethoven, Schickalssinfonie
5.9.1998
Gershwin Birthday
Party
Gershwin, Rhapsody in Blue


Gershwin, An American in Paris


Gershwin, I Love you Porgy


Gershwin, Summertime


Barber, Knoxville, Summer 1915


Strayhorn, Take the “A” Train



Sousa, Stars and Stripes Forever






8.9.2000
Aufstieg und
Fall der
Stadt Mahagonny
Brecht/ Weill, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny




Anmerkung: Informationsgrundlage des Artikels sind das Online-Archiv des Bremer Weser-Kuriers und der verbundenen Norddeutschen sowie Ausgaben der BWK-Werkszeitung Sir Charles.

Für die Hilfe beim Zugang zu diesen Quellen möchte ich den Eheleuten Kohl sowie Herrn Gorn, dem Vorsitzenden des Fördervereins Kämmereimuseum, vielmals danken.

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